Erstmals seit 1968 gehen die Lernenden wieder auf die Strasse und demonstrieren für bessere Bedingungen in der Lehre. Der Gewerbeverband und Erziehungsdirektor Mustafa Atici (SP) nehmen die Lehrbetriebe in Schutz.
«Es hat beim Vorstellungsgespräch angefangen, als der Chef überrascht war, dass ich so gut Schweizerdeutsch spreche.» Michel (Name geändert) schaut traumatisiert auf seine Lehre als Bäcker in einem Betrieb in Baselland zurück. Aufgrund seiner Hautfarbe wurde er von seinen Mitarbeitern und seinem Vorgesetzten rassistisch diskriminiert. Während er die 30 Kilogramm schweren Mehlsäcke die Treppe hochtrug, lachten sie ihn aus und riefen ihm «Sklave» zu. Auch das N-Wort musste Michel über sich ergehen lassen. Bis heute hat er ein unangenehmes Gefühl, wenn er sich in der Nähe der Bäckerei befindet.
Im Alter von 15 Jahren war es seine erste rassistische Erfahrung. Sich zu wehren, traute er sich nicht. Eine Ansprechperson fehlte ihm. Also begann Michel, sich im eigenen Zimmer einzuschliessen. «Die Erfahrungen im Betrieb haben mich mental belastet. Ich wurde recht depressiv», sagt der heute 20-Jährige. Als seine Mutter realisierte, was vor sich ging, kontaktierte sie Michels Vorgesetzten. Dieser habe die Vorfälle verharmlost und Sachen gesagt wie «die Lehre ist nicht einfach» oder «da muss er jetzt einfach durch». Nach acht Monaten brach Michel seine Lehre ab.
Michel begann kurz daraufhin eine neue Lehre im Detailhandel. Auch dort seien die Bedingungen bescheiden gewesen. Im dritten Lehrjahr schloss er sich der Basler Lernendenbewegung Scorpio an. Nun hilft er mit, die Lernendendemo am 22. März zu organisieren. Unter dem Motto «Ausbildung statt Ausbeutung: Demo für bessere Bedingungen in der Lehre» rufen Scorpio und die Freie Arbeiter*innen Jugend (FAJ) Basel zum öffentlichen Protest am Samstag beim De-Wette-Park auf.
Die Gruppe Scorpio wurde Ende 2022 von Lernenden, ehemaligen Lernenden und weiteren Unterstützenden ins Leben gerufen. Die rund 15 aktiven Mitglieder, die aus verschiedensten Branchen wie der Pharmaindustrie, dem Gesundheitssektor oder aus handwerklichen Berufen kommen, setzen sich für die Rechte und das Wohlbefinden der Lernenden in Baselland und Basel-Stadt ein. Es ist in den beiden Basel die einzige Bewegung von Lernenden für Lernende.
Scorpio führt Informationsveranstaltungen durch, ist auf Social Media aktiv und hat das Dokument «Deine Rechte in der Lehre» publiziert. Auch gibt es regelmässige Treffen, wo sich Lernende austauschen und über ihre Probleme in der Lehre diskutieren können. «Durch Scorpio konnte ich erstmals offen darüber sprechen, was in der Lehre passiert ist, weil es andere Leute gibt, die ähnliche Situationen erlebt haben», sagt Michel.
Die Lehrabbruchquoten
Gemäss dem Bundesamt für Statistik brach im Jahr 2024 rund ein Viertel der Lernenden die Lehre ab. In Basel-Stadt lag die Abbruchquote mit rund 13 Prozent deutlich tiefer. Das geht aus den Zahlen des statistischen Amts des Kantons hervor. Von insgesamt 5464 Lehrverträgen wurden 710 aufgelöst – die höchste Zahl an Lehrabbrüchen im Kanton in den letzten 24 Jahren. Für Baselland liegen für das Jahr 2024 keine Zahlen vor.
Mitgründer von Scorpio ist Thomas (Name geändert). Der 21-Jährige hat in seiner Lehre als Automatiker in einem Betrieb in Basel-Stadt ebenfalls schlechte Erfahrungen gemacht. Ihm habe es während der drei Jahre vor allem an Wertschätzung und Dankbarkeit für seine Arbeit gefehlt. «Am Ende gipfelte das darin, dass mir mein Chef nicht einmal zum Lehrabschluss gratuliert hat», sagt Thomas.
Unia-Umfrage signalisierte schlechte Bedingungen für Lernende
Dass Michel und Thomas keine Einzelfälle sind, zeigt eine Umfrage der Gewerkschaft Unia vom vergangenen Sommer. Von über 1100 Lernenden, die an der Umfrage teilnahmen, gab rund ein Drittel an, im Betrieb schon einmal Rassismus, Mobbing und sexuelle Belästigung erlebt zu haben. Knapp die Hälfte der Lernenden ist während der Arbeit häufig oder immer gestresst, weitere 50 Prozent arbeiten länger als die gesetzlich geregelten neun Stunden pro Tag. Die Umfrage deutet auf strukturelle Probleme in Lehrbetrieben hin.
Für die Scorpio-Mitglieder Michel und Thomas ist klar: Die Resultate der nationalen Umfrage sind repräsentativ für die beiden Basel. In ihren Lehrklassen, später an der Berufsmatur und generell in ihrem Umfeld hören sie immer wieder von Jugendlichen, die während der Lehre eine schwierige Zeit hatten. Neben Rassismus, Sexismus und Mobbing erwähnen die Scorpio-Mitglieder die Abhängigkeit vom Lehrbetrieb, den Machtmissbrauch von Ausbildenden und die Wehrlosigkeit von jungen Lernenden als akute Probleme.
Gewerbeverband und Atici sehen keinen Anlass zur Sorge
Der Gewerbeverband Basel-Stadt sieht das anders. «Solche Themen sind ernst zu nehmen. Aber wir sehen in Basel-Stadt kein flächendeckendes Problem», sagt Mediensprecher Daniel Schindler auf Anfrage. Er moniert die «Pauschalkritik» von Scorpio: Die Realität sehe in den allermeisten Lehrbetrieben deutlich besser aus als von Scorpio beschrieben. «Die grosse Mehrheit der Lernenden wird sorgfältig begleitet und macht eine Ausbildung auf hohem Niveau», so Schindler.
Auch Mustafa Atici, Vorsteher des Erziehungsdepartements des Kantons Basel-Stadt, gibt den Lehrbetrieben Rückendeckung. «Unsere Lehrbetriebe leisten eine hervorragende Arbeit», sagt Atici im Gespräch mit dem Autor. Was die Situation für die Lernenden in den Betrieben angeht, scheint Atici keinen grossen Verbesserungsbedarf zu sehen. Er denke nicht, dass die hohen Prozentzahlen der Unia-Umfrage auch auf Basel-Stadt zutreffen.

In anderen Worten: Strukturelle Probleme in Lehrbetrieben sind nicht vorhanden, so Aticis Einschätzung. Vereinzelte Fälle von Mobbing, Rassismus oder sexueller Belästigung in Betrieben gebe es zwar immer. Das bedauere er, sagt Atici. Solche Fälle nehme das Departement aber sehr ernst und suche den Kontakt zu den Beteiligten. Auch der Gewerbeverband lässt verlauten: «Es gelten klare gesetzliche Regeln, und bei Verstössen greift die Lehraufsicht des Kantons ein.»
Tiefes Vertrauen in Anlaufstellen
Das Problem: Das Vertrauen in die Behörden ist, zumindest unter den Scorpio-Mitgliedern, begrenzt. «Aus meinen Erfahrungen kennen sich die Mitarbeitenden der Lehraufsicht und der Betriebe und kommunizieren untereinander», sagt Scorpio-Mitgründer Thomas. Melden sich Lernende bei der Fachstelle Lehraufsicht mit ihren Anliegen, würden sie sich einer gewissen Gefahr aussetzen. Aus diesem Grund würden viele Betroffene auf dieses Vorgehen verzichten. Zahlen zu Anfragen von Lernenden, die bei der Lehraufsicht des Kantons Basel-Stadt Unterstützung suchen, gibt es keine. Diese werden gemäss Atici nicht erfasst.
Ein weiterer Kritikpunkt von Scorpio ist der Mangel an behördlichen Kontrollen, die in den Lehrbetrieben stattfinden. In der Unia-Umfrage gab über die Hälfte der Lernenden an, dass ihr Betrieb noch nie vom Amt für Berufsbildung kontrolliert worden sei. In Basel-Stadt ist die Fachstelle Lehraufsicht für diese Kontrollen zuständig. Atici sagt dazu: «Es gibt regelmässige Kontrollen, wo Probleme gemeldet werden. Auch bietet der Kanton Kurse für Berufsbildner an. Der Kontakt zu den Lehrbetrieben ist lebendig und wir schauen genau hin.»
Ähnlich skeptisch wie gegenüber den Behörden sind die Scorpio-Mitglieder auch betriebsinternen Anlaufstellen gesinnt. Michel und Thomas erlebten selber, dass ihre Lernbetreuenden unregelmässig im Betrieb waren, die Beziehung zu ihnen sei unpersönlich gewesen. Oder dass die Lernendenausbildner und deren Vorgesetzte gute Beziehungen zueinander hatten. Bei Vorfällen, in welche die Ausbildner involviert waren, erschwerte das wiederum ein Vertrauensverhältnis von Lernenden zu diesen Vorgesetzten.
Lernende setzen auf Konfrontation
Aus diesen Gründen haben sich die Leute, die hinter Scorpio stecken, dazu entschieden, sich selber zu organisieren. Sie haben einen Forderungskatalog veröffentlicht, mit dem sie Druck auf Betriebe und die Behörden aufbauen möchten. Darin fordern sie unter anderem einen branchenübergreifenden Mindestlohn von 1000 Franken für alle Lernenden. Die Antwort des Gewerbeverbands: «Lehrlingslöhne sind branchenabhängig und werden gemeinsam mit den Sozialpartnern definiert.»
Und nun organisiert Scorpio seine erste Demonstration. Weshalb gerade jetzt? Die Unia-Umfrage vom letzten Sommer habe eine öffentliche Debatte über die Situation der Lernenden ausgelöst, in welche die Lernenden selber aber zu wenig involviert worden seien, findet Thomas. Generell werde das Thema Lehrausbildung mit Kampagnen, welche die Lehrausbildung attraktiver machen wollen, aktuell rege diskutiert. «Wir wollen auch unseren Senf dazugeben und die Stimme der Lernenden an die Öffentlichkeit tragen.» Scorpio erwartet um die 300 Teilnehmende.
Es ist die erste Lernendendemo in Basel seit der 68er-Bewegung. Damals waren in Basel vor allem die zwei Organisationen aktiv: Progressive Lernende Basel (POB) und Hydra. Sie lösten sich aber nach wenigen Jahren wieder auf. Scorpio orientiere sich nicht an der 68er-Bewegung, wie Thomas erklärt. Die Gruppe habe sich aber in den letzten Monaten damit auseinandergesetzt. Letzte Woche veranstaltete Scorpio einen Austausch mit einem ehemaligen POB-Mitglied.
Gewerbeverband und Scorpio widersprechen sich
«Ich finde es gut, dass es Jugendliche gibt, die sich für ihre Interessen einsetzen, solange sie innerhalb des gesetzlichen Rahmens bleiben», sagt Atici. An der Demonstration teilnehmen wird er nicht. Doch für einen baldigen Austausch mit Scorpio wäre er bereit. Zudem will Atici demnächst mehrere Lehrbetriebe besuchen. «Wenn ich dorthin gehe, werde ich nicht nur mit den Berufsbildnerinnen und Berufsbildnern, sondern auch mit den Lernenden diskutieren», sagt Atici.
Der Gewerbeverband sieht die Demonstration kritischer. «Demonstrationen ersetzen keine sachliche Zusammenarbeit», sagt Pressesprecher Schindler. Man habe das Gespräch mit Scorpio mehrmals gesucht, aber keine Reaktion erhalten. «Das bedauern wir, denn konstruktive Lösungen entstehen im Dialog – nicht über Schlagzeilen.»
Scorpio-Mitgründer Thomas widerspricht: Der Gewerbeverband habe die Gruppe noch nie kontaktiert. Ob ein Gespräch sinnvoll wäre, bezweifelt er. «Die Klientel des Gewerbeverbands verdient daran, dass sie Lernende als billige Arbeitskraft haben. Der Verband würde unsere Interessen in der Politik also sowieso nicht widerspiegeln wollen.»
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